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Interview mit dem Gesundheitspolitiker Pierre-Yves Maillard

«60 Kassen: kostspielig und unnütz»

Interview mit dem Waadtländer Regierungsrat Pierre-Yves Maillard, der die öffentliche Kasse verteidigt.

Pierre-Yves Maillard

Was verlangt die Initiative?

Pierre-Yves Maillard: Etwas ganz Einfaches: den falschen «Wettbewerb» über die Prämien beenden, der nur auf der Jagd nach Versicherten mit guter Gesundheit beruht. Die Prämienunterschiede kommen nur von daher. Diese Selektion der «guten Risiken» korrumpiert das System. Um dies zu ändern wird eine einzige Agentur pro Kanton vorgeschlagen statt der heutigen mehr als 60 Kassen, die in 26 Kantonen auf die Jagd gehen. Es ist teuer und unnütz, sechzig Kassen zu haben, die die gleichen Leistungen anbieten. Dies verursacht unnütze Werbung, unnütze Reserven und unverständliche Prämienberechnungen.

Welches ist der springende Punkt dieser Initiative?

Das zentrale Element ist eines, das ganz einfach scheint, ein Anspruch, der bescheiden tönt, für das System aber ein Riesenschritt wäre: die Garantie, dass die Prämien genau so stark steigen wie die Kosten. Seit mehr als zehn Jahren steigen die Kosten in der Schweiz in der Grössenordnung von 3 %. Aber es gibt kaum Versicherte, deren Prämien um höchstens 3% gestiegen sind. Es gab Erhöhungen um 6, 7 bis 10, ja sogar 15 Prozent – bedingt durch das System des Wettbewerbs unter den Kassen! Wenn es eine einzige Kasse gäbe, die alle Risiken in einem Kanton versichern würde, dann würden bei einem Kostenanstieg von 3% auch die Prämien um 3% steigen.

Die Gegner der Initiative sprechen von einer Verstaatlichung der Krankenkasse.

Das vorgeschlagene Modell ist eine Institution des öffentlichen Rechts, aber unabhängig vom Staat, der nur einer der Partner des Systems wäre. Patientenorganisationen, Leistungserbringer und Kantone wären ebenfalls Partner.

Die letzten drei Initiativen für eine öffentliche Krankenkasse wurden mit über 70 % abgelehnt. Warum könnte das Projekt 2014 durchkommen?

Das heutige System wird bezüglich Lesbarkeit, Transparenz und Logik bei der Prämienfestlegung immer schlechter. Auch ist das aktuelle Projekt einfacher als die früheren. Es konzentriert sich auf die Organisation des Systems und nicht auf die Art der Finanzierung. Die Inkohärenzen der von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlichen Finanzierung sind inzwischen offenkundig geworden und damit die grössten Mängel des Systems. In gewissen Kantonen werden zu viel Prämien bezahlt, in andern zu wenig.

Käme es ohne Initiative zu einer Wiederholung dieser Szenarien der letzten Jahre?

Ohne Initiative wäre die Wiederholung praktisch programmiert. Die 61 Kassen werden erneut in die Situation kommen, dass die Zahl der von ihnen Versicherten in einem Kanton zu klein ist, um alle Kosten zu decken – diese können von Jahr zu Jahr massiv schwanken. Sie müssen sich also bei den Prämien anderer Versicherter in andern Kantonen bedienen, um die Kosten in einem Kanton decken zu können. Die Massstäblichkeit von Prämien und Kosten ist also nicht in jedem Kanton gewährleistet. Eine einzige Versicherungsagentur pro Kanton führt dagegen zu einer genügend grossen Zahl Versicherter.

Wenn Sie 2011 zum Bundesrat gewählt worden wären, hätten Sie ewas anderes vorgeschlagen als Alain Berset?

Ich mache nicht fiktive Politik. Ich stelle nur fest, dass Alain Berset einen Gegenvorschlag ausgearbeitet hat und dass er damit den Bundesrat überzeugt hat. Das heisst auch, dass der Bundesrat und Berset festgestellt haben, dass das bestehende System grosse Mängel aufweist, etwa beim Risikoausgleich. Die Regierung hat also damals erkannt, dass die Initianten die richtigen Vorschläge gemacht haben.

Wie soll der Übergang vor sich gehen?

Wir denken, dass es einfache und pragmatische Möglichkeiten der Umsetzung gibt. Ich persönlich finde, dass man zumindest während einer Übergangsfrist zunächst das machen sollte, was am meisten nottut: ein Modell nach dem Vorbild der Erwerbsersatzkasse. Eine Agentur pro Kanton erhebt das Total der Prämien und deckt alle Kosten. Die Arbeitslosenversicherung ist in dieser Art organisiert. Das ist schnell umsetzbar und löst das Problem der Undurchsichtigkeit und der starken Schwankungen bei den Prämien.

Welche Einsparungen wären mit einer öffentlichen Krankenkasse möglich?

Der Übergang zu einer einzigen Kasse würde zu Einsparungen bei den Abläufen und der Effizienz führen, die Hunderte Millionen betragen. Es gäbe auch keine Marketing-, Werbe- und Akquisitionskosten mehr. Einige Kassendirektoren müssten eine neue Stelle suchen. Die Arbeit, die die Mutation von einer halben bis einer ganzen Million Versicherter pro Jahr gibt, fiele weg.
n Was geschieht mit den Reserven der Versicherungen, wenn die Initiative angenommen wird!
Die sechs Milliarden Franken Reserven würden sofort der nationalen Kasse überwiesen und anschliessend auf die einzelnen Agenturen verteilt. Dieses Geld gehört nicht den Versicherungen, sondern den Versicherten. Da ein bis zwei Milliarden für die Reserven genügen, stünden mindestens vier Milliarden für einen Teil der Kosten des Systemwechsels zur Verfügung. Einen Teil könnte man anlegen und aus den Erträgen die Prämien verbilligen und Präventionskampagnen finanzieren.

So würde die öffentliche Kasse es ermöglichen, mehr Gewicht auf die Prävention zu legen?

Die OECD, die das Schweizer Gesundheitssystem analysiert hat, fand, dass erhebliche Effizienzsteigerungen möglich wären mit einer besseren Prävention. Wir sind ein Land mit einer äusserst schwach entwickelten Prävention. Im schweizerischen Krankenkassensystem hat kein Versicherer ein Interesse daran, die Prävention zu fördern, wenn ein Versicherter nur ein Jahr bei ihm bleibt. Im Bereich des Diabetes, von Alzheimer und Krebs müssten sich die Versicherungen für Finanzierungslösungen ins Zeug legen, die die Ärzte dazu bringen, sich in Netzwerken zu organisieren, um Informationen auszutauschen. Mit ihrer Werbung wollen die Versicherer heute auf keinen Fall solche schweren Fälle anziehen: man sieht darin immer kerngesunde Menschen.

Der Abstimmungskampf 2007 war von einer Zahlenschlacht geprägt. Wird das in diesem Jahr gleich sein?

Bundesrat Couchepin sagte im Januar 2007, die Prämien würden 2008 nur um 2 % steigen, obwohl die neuen Prämien immer erst im Herbst verkündet werden. Was ist darauf passiert? 2008 gab es künstlich tiefe Prämien – und dann im Frühjahr 2009 Rechnungsabschlüsse mit grossen Defiziten. Das führte 2010 zu einer Prämienerhöhung von über 10%.

Wiederholt sich dies in diesem Jahr?

Alles deutet tatsächlich darauf hin. Es ist zu befürchten, dass die Versicherer vor der Ab-stimmung versuchen werden, künstlich tiefe Prämien für 2015 festzulegen, um die wahren Kosten der Gesundheit zu verschleiern. Die Mässigung der Prämien von 2015 würde sich nachteilig auf die Prämien von 2017 auswirken. Sollte die Initiative scheitern, wird man einmal mehr die Schwierigkeiten dieses Systems ertragen müssen. Es ist zu hoffen, dass der Betrug nicht ein zweites Mal gelingt.

Welches wäre der korrekte Anstieg für 2015?

Viele Versicherer müssten 2015 die Prämien im zweistelligen Bereich erhöhen. Daher gab es starkes Lobbying, damit schon im September und nicht erst im November abgestimmt wird. Um die zweistellige Erhöhung zu umgehen, bemühen sich die Versicherer beim Bundesamt für Gesundheit um eine Bewilligung zur Auflösung von Reserven zur Defizitfinanzierung, was es ihnen erlauben würde, die Prämien künstlich tief zu halten. Santésuisse, die Branchenorganisation der Versicherer, hat übrigens im Juli einen Prämienanstieg von rund 4,5% vorausgesagt, was nicht nichts ist, ist es doch doppelt so viel wie in den drei vergangenen Jahren, aber erheblich weniger als die wahre, unpopuläre Erhöhung im zweistelligen Bereich, die manche Versicherer vornehmen müssten.

Interview: Yves Sancey /
syndicom – die Zeitung; Übers.: pan.